Abiturientia 2017

Gratulation
Verehrte Festgemeinde, liebe Abiturientinnen,
einen von Herzen kommenden Glückwunsch an euch alle! Ihr habt euer Ziel, das Abitur, erreicht – wunderbar.
Ein Abitur ist immer auch eingebettet in eine Zeit, eine gesellschaftliche Situation, ist hineingestellt in die Veränderungen und Entwicklungen auf dem „Markt der Möglichkeiten oder Zumutungen“. In welcher Zeit erreicht ihr euren ersehnten Schulabschluss, in welche Veränderungen hinein versucht ihr euch durch Ausbildung oder Studium einen Weg zu suchen, einen Platz zu finden?
Menschen sind in Bewegung, Menschen sind gefährdet, Menschen machen sich auf den Weg. Menschen kommen auf diesem Weg um. Willkommenskultur und intensive Bemühungen um Integration einerseits – Aus- und Abgrenzungen, neue Wahnvorstellungen eines Mauerbaus, Erstarken spalterischer politischer Kräfte andererseits. Wir sind zerrissen, weil es auf die drängenden Sorgen und Nöte einer zusammengerückten Welt keine einfachen Antworten gibt.

Terrorakte, vorgeblich „religiös“ motivierte An- und Übergriffe, die uns in einem religiös indifferent gewordenen Deutschland entgeistern, ratlos machen, ängstigen – im Jahr des Reformationsgedenkens, das zwar keine großen Fortschritte im Feld der Ökumene bringt, aber im normalen Miteinander der Konfessionen deutlich macht, dass die Zeiten hasserfüllter Trennung überwindbar sind und Wege zur Verständigung Erfolg haben können. Unsere Schule ist – wie ich meine – ein gutes Beispiel für das unkomplizierte, offene Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Religion.

Wir erleben, dass ein amerikanischer Präsident in tumber Desorientierung ein mühsam errungenes weltweites Klimaabkommen kündigt, derweil seine eigene zukunftsorientierte Wirtschaft eine Industrie von vorgestern längst hinter sich gelassen hat und ein ehemals schlimmster Umweltsünder in bedeutenden Technikbereichen eine Vormachtstellung vor Amerika zu erringen sich anschickt.

Wir müssen erfahren, wie versucht wird, Wirklichkeit durch eine „andere Wirklichkeit“ zu ersetzen, wie Politik der kurzen Sätze den notwendigen Diskurs in Abwägung und Differenzierung ersetzt. Es muss Ziel des Gymnasiums sein, zu genauem Blick auf die Realität einer Zeit, zu kritischem Nachfragen, sorgsamer Deutung des Wortes und differenziertem Abwägen und Urteilen anzuleiten, zu erziehen. Ich hoffe, wir sind diesem Anspruch gerecht geworden.

Wir stellen fest, dass in Ländern in unserer östlichen Nähe, aber auch jenseits des Bosporus oder des großen Teiches Männer eine Art Politik durchzusetzen versuchen, die mit den Werten, denen sich Europa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichtet fühlte, nicht entsprechen. Interessant, dass da Ende April in Berlin ein Weltfrauengipfel unter Führung der Bundeskanzlerin und der IWF-Chefin veranstaltet wurde. Zufall? Gut, was Ivanka Trump dort suchte, bleibt offen – und Theresa May war gar nicht erst dabei.

Wir halten beim Tod eines am 16. Juni verstorbenen Mannes inne, der 1989 die Zeichen der Zeit erkannte, glaubwürdig ein anderes Deutschland verkörperte und wichtige Schritte einleiten konnte, ein wiedervereinigtes Deutschland in einem geeinten Europa Wirklichkeit werden zu lassen. Wir stellen dankbar fest, was friedlich alles möglich ist, welche Grenzen sich öffneten, welche Freiräume sich auftaten, und konstatieren mit Sorge, wie schwierig es ist, Grenzen in Köpfen niederzureißen, unterschiedliche Lebensentwürfe und -erfahrungen zusammenzubringen, Gerechtigkeit erlebbare Wirklichkeit werden zu lassen.

Wir stellen mit Erstaunen fest, wie rasch sich politische Mehrheitsverhältnisse umkehren können, wie gerade auch junge Menschen neu politisches Interesse bekunden und sich einmischen. Freiheitsräume kann man anscheinend doch nicht so einfach zuschütten. Dass ein politischer Wechsel in einem Bundesland natürlich auch wieder Auswirkungen auf schulische Bedingungen hat, bedarf schon fast keiner Erwähnung mehr. Das aber werdet ihr nicht mehr erleben, ich auch nicht.

Selbst Papst- und Bischofswechsel scheinen die aktuelle Präsenz christlichen Lebens in unserer Zeit nicht zu stärken. Kirche ist „egal“, Religion ist vielen nicht mehr wichtig. Christentum verdunstet, auch wenn in unserer Schule viele Beispiele eine andere Sprache zu sprechen scheinen, auch unser Gottesdienst als Einstieg in diesen Feiertag.

Nein, das alles ist kein pessimistischer vorgezogener Abgesang. Denn bei allen kritischen Blicken leben wir einer Zeit des längsten Friedens in Europa, der Halbierung der faktischen Armut weltweit in den letzten beiden Jahrzehnten, der Verdreifachung von Demokratien in Entwicklungsländern seit den achtziger Jahren, während die Zahl der bei Konflikten Getöteten um 75 % gesunken ist.

Und nun stellt ihr euch dieser Welt, spielt ihr mit, wollt ihr Zukunft mitgestalten!
Was ist euch zu wünschen für euer Vorhaben? Was würden wir euch gerne mit auf euren Weg geben?
Viele von euch können anknüpfen an das, was sie bereits erfüllt hat und von dem wir in unserer Schule oftmals profitieren durften: bei der Sorge um und Hilfe für Mitschülerinnen, beim Engagement in der SV, bei zusätzlichem Einsatz der eigenen Fähigkeiten in Akademien, bei Wettbewerben, zum Erwerb weiterer Fremdsprachenqualifikationen, mit dem Blick für Gestaltung und künstlerische Auseinandersetzung, mit musikalischen Fähigkeiten – mit Instrument oder mit Stimme oder beidem.
Ich wünsche euch kritischen Geist und differenziertes Urteil, wenn es um den richtigen Weg unserer Gesellschaft geht – mit Empathie, aber auch mit Klarheit.
Ich wünsche euch klaren Blick für das, was sich in euch, mit euch und um euch herum tut – und sei es noch so weit entfernt. Es gibt nur die eine Welt in unserer Verantwortung.
Bleibt hartnäckig, konsequent, aber flexibel, um mit euren kommunikativen Kompetenzen Probleme aufzugreifen und strittige Fragen zu klären.
Nutzt eure Freiräume, um Grenzen zu überwinden, Neues auszuprobieren und Bewährtes zu stabilisieren.
Lasst euch nicht verunsichern von denen, die euch vorgeben wollen, wie „man“ als Frau, Mutter, in der Berufswelt Stehende zu leben, zu funktionieren hat. Geht euren Weg – in Abstimmung mit dem oder der oder denjenigen, die es mit angeht.
Lasst euch kein x für ein u vormachen. Lasst euch keine Hirngespinste als das eigentlich Eure aufdrängen. Geht euren Weg, nehmt andere mit oder geht alleine, wenn nötig.
Beschränkt euch nicht auf das unmittelbar Erreichbare, das, was sowieso ansteht, getan werden muss oder im Zeitgeist erforderlich scheint. Habt Lust auf das immer Mehr dieser Welt, habt Lust auf einen Blick noch hinter dieses Mehr oder darüber hinaus. Gott ist wahrscheinlicher, als viele vermuten. Wo Hoffnung die Neugier weckt und mit ihr in den Glauben eindringt, ihn beflügelt, kann Gott attraktiv werden und mit ihm ein immer unbekanntes, vielleicht sogar ewiges Leben.
Jetzt dürfen wir unsere Gedanken wieder hierhin zurückholen. Jetzt wird es ernst. Ihr erhaltet eure Abiturzeugnisse.